Sehnsucht - Eine Kurzgeschichte aus der Zwieland-Saga

Viel Spaß mit der Kurzgeschichte - Sehnsucht, aus der Feder von Astrid Rauner über die Zwielande. 

 

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Die Stille verriet ihre Ankunft. Der Wind war verstummt, der gestern noch die Wellen neben der kleinen Karavelle aufgetürmt hatte. Binnen einer Nacht hatte er dem Meer den Zorn genommen und es glatt gezogen wie ein Tuch aus fließendem Silber. Die Matrosen, die das kleine Schiff steuerten, waren unruhig von einer Reling zur anderen gelaufen. Vergeblich hatte der Kapitän durch die löchrige Wolkendecke anhand der Sterne die Koordinaten ihrer Position zu bestimmen versucht. Einen Todesbringer hatten sie den Hauptmann gerufen, egal wie sehr Jon auf sie eingeredet hatte. Ein stetes Fluchen und Flehen hatte das Schiff umfangen, an die Götter, Dämonen, ganz gleich, ob sie Heil bringen oder Schuldige sein konnten. Niemand aus der Mannschaft hatte glauben wollen, dass der Kurs, den der Hauptmann dem Kapitän anzusteuern genannt hatte, jemals ein Ziel erreichen würde. Vermutlich nicht einmal mehr Jon selbst.

Nun schwiegen sie alle. Der Hauptmann, Magnus war sein Name, lehnte mit geschlossenen Augen am Hauptmast. Er wusste genau, was sie sahen. In nachtschwarzer Dunkelheit stand die gesamte Mannschaft an der Reling, blickte über die stille See hinüber in das Nichts des Horizontes, das der Kapitän prophezeit hatte, und sahen als dunklen Schemen das Ziel ihrer Reise, das niemand von ihnen für real gehalten hatte.

„Hauptmann?“ Die zittrige Stimme zu seiner Rechten gehörte Jon. Der Junge trat in kleinen Schritten auf der Stelle, unsicher, ob er nähertreten durfte. „Hauptmann! Wir… wir haben tatsächlich Land gesichtet!“

 

Magnus schmunzelte über die Fassungslosigkeit in Jons Stimme. „Ich weiß.“ Schon lange wusste er es. Ihre Ankunft war wie ein warmer Schauer durch sein Innerstes gesickert. Die Sehnsucht, die ihn hier her getrieben hatte, brannte mit einer kaum auszuhaltenden Macht. Dankbar war er um sie, denn sie bewies, das Flüstern jener Nacht würde sein Versprechen einhalte.

 

 

Was zuvor geschehen war…

Die Luft stand dick wie brackiges Wasser über dem Flusstal. Trotz der hohen Felswände, die bei Tag für wenige Stunden erlösenden Schatten spendeten, hatte die Gluthitze des Sommers sich festgesetzt und auch von der Dunkelheit einer aufziehenden Nacht nicht vertreiben lassen. Wo im Frühjahr das Schmelzwasser aus dem Gebirge ins Tal herunterbrach, steckten nun Zeltnägel im ausgetrockneten Schlamm. Ein feines Rinnsal, das hin und wieder zwischen den Rissen im Erdboden auftauchte, hatte gerade gereicht, um den Durst zu stillen.

 

Obgleich Magnus sich kurz nach Sonnenuntergang sein Schlaflager bereitet hatte, lag er immer noch wach. Der tagelange Ritt steckte ihm in jedem Knochen. Draußen vor dem zurückgeklappten Zelteingang lief ein Schatten auf und ab. Der fast volle Mond schien hell genug, dass der Hauptmann dem Schemen einen Namen zuordnen konnte. Jon hielt der Hunger wach. Oder der tiefe Schnitt an seinem Oberarm, an dem die Riemen seiner Lederrüstung nachgegeben und das Schwert hatten durchdringen lassen. Der Junge brauchte einen Heiler, das machte die ganze Sache nicht besser.

 

Wie hatten sie sich nur auf dem Rückzug vom Rest des Heeres abschneiden lassen können! Es war schlimm genug, dass keiner der Kundschafter die versprengten Truppen gemeldet hatte, die ihnen nach der Schlacht durch das Gebirge nachgefolgt waren. Das kleine Scharmützel, das sie ihnen auf dem Rückweg bereitet hatten, wäre nicht von Bedeutung gewesen. Wie hatten sie sich nur verleiten lassen können, Jagd auf diese Männer zu machen, die die Berge besser kannten, als Magnus seine eigene Stadt!

 

Jon, der die ganze Zeit draußen vor der letzten Glut ihres Lagerfeuers auf und ab gelaufen war, hatte sich nun neben dem Zelt niedergelassen. Einen langen Augenblick starrte Magnus zu ihm nach draußen, bevor er das Ringen um Schlaf aufgab und an die Seite seines Soldaten trat. Dieser hatte die Knie locker mit den Armen umschlungen und sah in den Nachthimmel hinauf. Das silberne Sternenband leuchtete so klar am Firmament, man hätte jedes Gestirn einzeln zählen und den Göttern, die von dort oben auf sie niedersahen, einen Namen geben können. Eine Sternschnuppe zog einen hellen Streif vor den nachtschwarzen Himmel. Dann wieder eine. Sie schienen so nah, als könne man sie mit Händen greifen. Irgendwann fragte Jon ohne den Blick abzuwenden: „Ihr seid Euch nicht sicher, ob dieses Flusstal wirklich zu einer Siedlung führt, nicht wahr?“

 

„Ich bin sicher, dass ich den Fluss auf der Karte gefunden habe. Er führt auf eine Ebene mit fruchtbarem Boden.“

 

„Aber seid Ihr Euch sicher, dass diese Bauernsiedlungen wirklich noch bewohnt sind?“

 

Das Schweigen des Hauptmannes war Antwort genug. Sie hatten keine andere Spur, das war die Wahrheit. Jeder von ihnen war ein Fremder in diesen Bergen. Magnus versuchte nicht an das Schlimmste zu denken und beobachtete eine weitere Sternschnuppe, die hinter einer Bergkuppe verschwand. „Seht mal!“ Jon deutete in den Himmel. „Das sind viele, oder? Die Sternschnuppen. Wirklich viele!“

 

Bisher hatte Magnus nicht viele Gedanken an die Himmelerscheinung verschwendet. Nur hatte Jon Recht. Mit jedem Atemzug waren mehr Lichtstreifen am Firmament zu sehen. Sie zogen lautlos nach Westen, nach Süden, nach Osten. Der Hauptmann war sich nicht sicher, ob seine Augen ihn trogen. Doch tatsächlich -  über ihnen schien der Himmel auf einmal die Farbe zu ändern. Das Grauschwarz der Nacht wurde heller, immer blasser.

 

„Was geht hier vor?“, stammelte Jon, der nervös auf die Beine gekommen war. „Da stimmt doch etwas nicht?“

 

Magnus hatte selbst keine Erklärung. Die Sternschnuppen wurden immer mehr, schienen immer näher zu kommen. Plötzlich erglomm der Himmel taghell, von Schlieren aus sattem Blau durchzogen. Dann kam das Beben. Der Boden erzitterte. Jon schrie auf, warf sich vor Schreck auf die Knie, auf das schlimmste wartend, einen Feind, eine mächtige Erscheinung. Als rissen die Götter das Firmament auseinander, regneten bläuliche Funken auf die Erde nieder. Magnus stand wie erstarrt, wusste nicht, was er tun sollte. Kein Gefühl empfand er, als das Licht seinen Körper berührte. Das einzige, was er verspürte, war ein kurzer Ruck.

 

Dann flutete Wärme seinen Leib. Die Bilder der Nacht zerflossen vor Magnus´ innerem Auge. Die Wirklichkeit verschwamm in Wellen aus Licht, bevor sie sich neu zusammensetze. Ein Bild glitt durch seinen Geist, grüne, waldgesäumte Wiesenzüge, die baumbewachsenen Hänge eines gewaltigen Bergrückens, einsam thronend vor dem Blau des Himmels. Wellen, die sich an einer Steilküste brachen und nur ein winziger Strand, gerade groß genug, um mit einer handvoll Beibooten oder einem kleinen Schiff anzulanden. Eine unsagbare Sehnsucht ging vor dieser Szenerie aus, eine Art von Heimweh, wie der Hauptmann sie niemals gekannt hatte. Nicht nach diesem Ort – doch untrennbar damit verbunden. Sie fraß sich tief in seinen Geist, ein warmes Pulsieren, das er kaum auszuhalten schien.

 

Doch irgendetwas stimmte hier nicht! Lichtblitze zerrissen plötzlich vor seinem inneren Auge die Szenerie, begleitet von einem tonlosen Schrei…

 

„Hauptmann!“

 

Die Wirklichkeit überflutete Magnus mit der Wucht einer Meeresbrandung. Für einen Herzschlag glaubte er das Gleichgewicht zu verlieren, wähnte sich zu Boden stürzend, bis ihm klar wurde, dass er unverändert da stand. Über ihm flirrte das weiße Echo der Sternschnuppen am Nachthimmel.

 

„Hauptmann!“ Zwei Hände packten ihn, rüttelten ihn an den Schultern. Aus dem Reflex, den Angreifer von sich zu stoßen, glitt sein Bewusstsein endlich in die Gegenwart zurück. Jon stand mit schreckensweiten Augen vor ihm, sein Gesicht hatte im Mondlicht jede Farbe verloren. „Hauptmann,“ begann er ein drittes Mal, „geht es Euch gut?“

 

Magnus schluckte tief. Noch immer fehlte ihm jedes Gefühl für den eigenen Körper. Die fremden Empfindungen prickelten unter seiner Haut. Was gehörte noch zu ihm, was war Teil dieser Traumbilder? Vision und Wirklichkeit schienen miteinander zu verschmelzen. Dabei sind es gar keine Traumbilder, flüsterte seine innere Stimme und im gleichen Moment hatte er glasklar vor Augen: „Wir müssen hier weg!“

 

Jon nahm seine Worte mit Verunsicherung auf. „Natürlich…“, bestätigte er zögerlich, „Nur wohin? War das nicht die Frage?“

 

Eine Frage, deren Antwort sich ganz von alleine einstellte. Drei angstvolle Tage vergingen, zehrten ihre Vorräte auf, verloren sich in erfolglosen Suchen nach dem Weg, während die Traumbilder immer wieder vor Magnus´ Innerem Auge aufleuchteten. Je öfter er sie sah, desto stärker wuchs in ihm das Heimweh. Mittlerweile war er sich sicher, diesen Ort schon einmal selbst gesehen zu haben. Und am Abend des dritten Tages war er sich plötzlich sicher, wie man ihn erreichen konnte…

 

„Ich weiß, wohin wir gehen müssen“, sagte er plötzlich zu Jon. „Ich könnte dir eine Karte zeichnen, so sicher bin ich!“ Der Junge wich im Laufen einen Schritt vor seinem Hauptmann zurück. Dieser sah das Misstrauen in seinen Augen aufblitzen. „Da ist Magie am Werk! Ihr könnt dem nicht trauen! Hauptmann…!“

 

„Nein!“, bestürmte Magnus den jungen Mann. „Du brauchst davor keine Angst zu haben. Jetzt bin ich mir sicher. Die Götter haben uns ein Zeichen geschickt! Vertrau mir!“ 

 

„Vertrau mir!“, hallten die Worte dieser Nacht in Magnus´ Gedanken nach und brachten ihn zu einem stillen Lächeln. Vertrauen war es, das in ihm gewachsen war. Entscheidungen waren in ihm wie aus dem Nichts gewachsen, und ein Teil von ihm hatte dies als beängstigend empfunden. Natürlich hatte er sich gefragt, welche Art von Kraft oder Magie hier wirkte, die ihm dieses Wissen schenkte. Als hätte er den Weg sein Leben lang gekannt, hatte er die Männer aus den Bergen heraus in die nächste Siedlung geführt. Nachts, wenn der Schlaf seinen Geist umarmte, waren die Bilder der Insel zurück zu ihm gekommen. Doch nichts Feindliches umgab sie, nichts, das ihn zweifeln ließ. Sein Leben lang mussten sie in ihm geschlafen haben. Denn er schien jeden Baum, jeden Stein beim Namen nennen zu können.

 

Egal, wie sehr sein Körper nach Rast verlangt hatte, der Hauptmann war ohne längere Pause weiter gezogen. Noch länger hätte er nicht warten können. Sein Geist verzehrte sich nach diesem Ort, dessen Bilder als verschwommene Traumvisionen durch seine Gedanken glitten, und doch schien er vor seinem Inneren Auge realer als die Wirklichkeit.

 

Und er hatte Recht behalten. Keiner hatte ihm glauben wollen. „Dort gibt es nichts,“ hatte der Kapitän der Karavelle Magnus entgegen geschmettert, als dieser allein aus seiner Erinnerung versucht hatte, den Seeweg zu beschreiben. „Ich kenne keine Schiffe, die sich schon einmal auf diese Route gewagt haben. Ins Nirgendwo segele ich nicht!“ Letztlich hatte er es für eine beachtliche Menge Goldstücke dennoch getan. Der Hauptmann besaß nun nicht mehr als das, was er am Leibe trug, und trotzdem fühlte er sich reicher, als je zuvor in seinem Leben.

 

Kalt pfiff der Wind um die Hauptmasten. Den Mantel eng um sich geschlungen trat Magnus an die Reling und starrte auf die schwarze Silhouette am Horizont, die alles war, was er erreichen wollte. Kein Mond stand am Himmel. Das fahle Licht der Sterne hätte die Schwärze kaum durchdringen können und doch war das Firmament von einem diffusen, bläulichen Leuchten erfüllt. Der Hauptmann dachte an die unzähligen Sternschnuppen und die Himmelserscheinungen jener Nacht, die ihm den Weg an diesen Ort gewiesen hatte. Eine Erinnerung daran schien noch immer zwischen den Sternen zu stehen. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft, zog sich sein Magen im Zweifel zusammen. Ob wirklich alles gerade nach Plan verlief? Magnus konnte sich darauf schlecht eine Meinung bilden. Alles, was ihn voran trieb, war ein Gefühl tief in seinem Innersten. Die Frage war also, was würde er hier finden?

 

Das Schiff trieb bis zum Sonnenaufgang mit keiner Meile Abstand vor der Küstenlinie. Das erste Tageslicht reckte gerade seine Finger über den Horizont, da hatte Magnus den Kapitän überzeugen können, die Karavelle an dem kurzen, steinigen Strand an Land gehen zu lassen. Im Morgendunst waren nun in einiger Entfernung die Silhouetten weiterer Inseln auszumachen. Alle von ihnen wirkten gebirgig. Jene, die die Mannschaft gerade ansteuerte, schien eines der kleineren Eilande im Archipel zu sein. Steil und mehrere Meter hoch fiel die Küstenlinie vor ihnen ins Meer. Nur in einem schmalen Bereich von nicht einmal einer viertel Meile Länge ergoss sich der Wald, der große Teile der Insel bedeckte, über einen Kiesstrand ins Meer.

 

Wie mechanisch verrichteten die Matrosen ihren Dienst, um das Schiff sicher an Land zu bringen. Gerade genug taten sie, bis der Kiel den Kies vor sich teilte, dann schienen sie an Deck zu versteinern. Der Hauptmann musterte verständnislos die Angst in ihren Augen. Offensichtlich fürchteten sie sich vor diesem Ort jenseits aller Seekarten, den nur die Weisheit der Sterne selbst finden konnte. Ob ihre Furcht berechtigt sein könnte, darauf verschwendete Magnus keine Gedanken. „Komm!“, wandte er sich an Jon, der die Nacht mit ihm durchwacht hatte und nun gegen die Müdigkeit kämpfte. „Wir sind fast da!“

 

Mit diesen Worten kletterte Magnus über die Reling und ließ sich mit einem kleinen Sprung in die Brandung fallen. Dies weckte Jon aus seiner Lethargie, der eilig versuchte, seinem Anführer nachzufolgen. „Was meint Ihr mit ‚fast‘?“, rief er dem Hauptmann hinterher, bevor er ebenfalls über die Schiffswand kletterte. Die erste Welle riss ihn direkt wieder von den Füßen, sobald er sich aufzurichten versuchte. Magnus hatte sich einige Dutzend Fuß vor ihm an Land gekämpft und steuerte zielgerichtet auf den Waldrand zu.

 

„HAUPTMANN!“, versuchte Jon noch einmal auf sich aufmerksam zu machen. „WONACH SUCHEN WIR?“

 

Magnus drehte sich nicht um. Flüchtig suchte sein Blick die Küstenlinie vor ihm ab, dann verschwand er bereits hinter den ersten Bäumen. Der junge Soldat stolperte aus den Wellen, stürzte mit dem letzten Schritt auf die Knie. Im Aufstehen musterte er lange die Insel, die sich in einem bewaldeten, vulkanartigen Berg zum Himmel auftürmte. Tatsächlich glich sie den Bildern jener Nacht… Jon hatte es dem Hauptmann nicht gebeichtet, doch für wenige Herzschläge hätte auch er dieses Eiland gesehen. Daher wusste er, die Sehnsucht, die den Hauptmann voran trieb, war real, schmerzte beinahe, doch bei Jon hatte sie nicht angehalten. Er traute all diesen Dingen nicht. Ein Teil von ihm fürchtete sich vor dem, was sich an diesem Ort verbarg.

 

Plötzlich stoben Vögel aus den Baumkronen auf, keine hundert Fuß zu Jons Linken. Der Blick des jungen Mannes schoss zur Seite. Für einen Herzschlag hätte er schwören können, einen Schatten zwischen den Bäumen zu erkennen. Doch zu sehen war nichts. Ohne die Augen vom Waldrand zu nehmen, zog Jon seinen Säbel. Ganz langsam näherte er sich den ersten Bäumen. Das dichte Unterholz erlaubte Jon, sich nur wenige Dutzend Fuß vor ihm umzusehen. Eine schmale Schneise verriet den Weg, den der Hauptmann genommen haben musste. Mittlerweile hörte er nicht einmal mehr dessen Schritte.

 

Jon schien das Herz in die Magengrube zu rutschen. Was tat er eigentlich hier? Niemand wusste etwas über diese Insel. Konnte sie bewohnt sein? Ein Teil von ihm drängte mit Nachdruck zum Schiff zurück. Früher oder später mussten die anderen Männer an Land kommen, um Süßwasser und vielleicht etwas Proviant zu laden. Gemeinsam würden sie wenigstens gegen mögliche Angreifer etwas ausrichten können.

 

Trotzdem hatte Jon schon jetzt beinahe die Spur seines Hauptmannes verloren. Er konnte nicht einfach umkehren! Nach wenigen Augenblicken nur war die Küstenlinie hinter den jungen Bäumen und Dornensträuchern des Unterholzes kaum mehr zu erkennen. Jedes Knacken jagte dem jungen Mann wie ein Schlag in die Rippen. Immer wieder versuchte er im Dickicht etwas zu erspähen. Umgefallene Bäume und dichtes Strauchwerk machten ein schnelles Vorankommen unmöglich. Eigentlich müsste er Magnus bald eingeholt haben, sofern er noch die richtige Richtung nahm.

 

Auf einmal erstarrte Jon in der Bewegung. Diesmal war er sich sicher! Das Knacken ein Dutzend Fuß hinter ihm konnte keine Einbildung gewesen sein. Seine Haut spannte sich weiß über den Fingerknöcheln, so fest umklammerte er den Griff seines Säbels. Der junge Soldat wagte nicht, sich umzudrehen. Er spürte einen wachsamen Blick, der ihm in den Rücken stach. Mit jedem Herzschlag rann ihm eine Perle kalten Schweißes über die Stirn.

 

„Ich…“, brachte er mit erstickter Stimme hervor. „Ich tue dir nichts! Ich suche nur einen Freund! Wir haben keine bösen Absichten!“

 

Ein Ast brach, dann noch einer – untrügliches Zeichen von Schritten, die nicht mehr geheim gehalten werden sollten. Der Beobachter wandte sich hinter Jon nach links, begann ihn zu umrunden. Der Soldat folgte seiner Bewegung, ohne sich von der Stelle zu rühren. Für einen Atemzug erhaschte er einen Blick auf eine kleine Gestalt und zerfetzte Kleider. Der Fremde gewann an Tempo, bewegte sich unregelmäßiger. Jon versuchte, ihm abwehrbereit entgegen zu stehen. Er war zu langsam.

 

Der Sekunde, in der der Schatten aus dem Unterholz brach, folgte der Schmerz des Aufpralls. Jon wurde zu Boden gerissen. Ein Körper, hager, leicht, doch von enormer Kraft, presste ihn in das Laub, riss ihn zur Seite und rammte ihm einen Fuß in den Rücken, dass Jon mit dem Gesicht in die Erde schlug. Seine Arme schmerzhaft nach hinten gezogen, hatte der Fremde ihn bewegungsunfähig gemacht. „Bitte!“, wimmerte der Junge mit Erdbrocken zwischen den Lippen. „Ich will dir nichts tun!“

 

Den Angreifer schienen Jons Worte nicht zu interessieren. Unruhig zuckte sein Körper über dem Leib des Jungen hin und her ohne dass sich eine Möglichkeit zur Gegenwehr bot. Viel zu nah spürte Jon das Gesicht des Fremden über seinem Rücken. Roch er etwa an seiner Kleidung? Dann tastete eine Hand über seine Schultern, drückte ohne Sinn links und rechts von seiner Wirbelsäule. Suchte dieser Fremde etwas? Wollte er Jon bestehlen?

 

Plötzlich begann die Gestalt zu murmeln. „Wertlos.“ Der Fremde setzte sich um, sein Knie presste sich so fest in Jons Nacken, dass dieser kaum noch Luft bekam. Panik brach über dem Jungen zusammen. Der Angreifer zerrte ihm einen Beutel von seinem Gürtel, warf ihn beiseite. „Wertlos,“ knurrte der Mann durch die Zähne, immer wieder. „Wertlos.“ Jon hörte das Geräusch eines Messer, das aus seiner Scheide befreit wurde.

 

 

„VERSCHWINDE!“, gellte auf einmal ein Schrei zwischen den Bäumen hindurch. Äste brachen, Schritte sprinteten heran. Ohne sich auf einen Kampf einzulassen, sprang der Fremde von Jons Rücken. Wie durch einen Schleier nahm der Junge wahr, dass sein Angreifer augenscheinlich das Heil in der Flucht suchte. Bevor er die Situation vollends zu erfassen vermochte, packten ihn Hände an den Schultern und drehten ihn auf dem Rücken. „Bist du verletzt?“

 

Es war Magnus. Die Bilder drehten sich noch vor Jons Augen, während er den Baumwipfeln entgegen blinzelte. Sein Hauptmann hockte neben ihm. Als der Junge unsicher mit den Händen nach Halt auf dem Boden suchte, ertastete er den Säbel, den er beim Sturz auf dem Boden hatte fallen lassen.

 

„Bist du verletzt?“, wiederholte der Hauptmann noch einmal seine Frage und bekam von Jon ein träges Kopfschütteln. Den Schreck über den Angriff davon atmend, fand dieser schließlich seine Stimme wieder: „Wohin seid Ihr verschwunden? Ihr rennt durch den Wald wie ein Besessener!“ Magnus half seinem Kameraden auf die Beine. „Was sucht Ihr hier?“, stieß Jon zum Schluss aus und es klang fast wie ein Vorwurf.

 

Als der junge Soldat seinem Hauptmann endlich in die Augen blickte, spiegelte sich in diesen ein schlechtes Gewissen wider. „Verzeih mir,“ begann Magnus. „Ich kann dir nicht erklären, was hier vorgeht.“

 

„Wonach sucht Ihr?“, wiederholte Jon seine Frage mit Nachdruck und runzelte die Stirn über Magnus´ Zögern. Ein wenig zu lange brauchte die Antwort: „Ich glaube, ich suche einen Ort. Halt mich nicht für verrückt, bitte,“ beschwor Magnus seinen Soldaten, während er sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe tippte. „In meinem Kopf kann ich ihn sehen, da sind Bilder. Es kommt mir vor, als wäre ich schon dort gewesen.“

 

Jon schien ihm nicht recht folgen zu können. „Ihr sagtet doch, Ihr habt diese Insel gesehen.“

 

„Das habe ich. Aber in diesen Visionen gab es mehr als nur dieses Eiland. In mir ist so ein Gefühl, dass wir noch nicht am Ziel sind. Was ich suche… kann nicht diese Insel sein. Doch von hier aus können wir es erreichen.“

 

Kopfschütteln. Mehr fiel Jon zu den Worten des Hauptmannes nicht ein. „Da kann etwas nicht stimmen!“, erwiderte er Magnus. „Hauptmann, bitte! Was ist, wenn das eine Falle ist? Magie hat Euch diese Bilder in den Kopf gesetzt. Davon verstehen wir beide nichts! Vielleicht sollten wir zum Schiff zurückkehren!“

 

Die Enttäuschung war Magnus aus den Augen zu lesen. Wie sollte er seinem Soldaten klar machen, was er gesehen hatte? Durch seinen Geist schwammen Bilder aus alter Zeit, Fetzen aus Erinnerungen, so real, als wären sie erst gestern vorüber gegangen. Die Wolken aus Szenerien, Bildern und Worten mochte er kaum auseinander zu ziehen. Jon hätte er nicht von diesem Ort erzählen können. Das einzig bedeutungsvolle schien ihm der Gedanke an Wissen – in den Händen ungeheuer mächtiger Alchemisten. Wie viel und was davon auf dieser Insel zu finden war, das vermochte Magnus nicht in Worte zu fassen. Dass er beinahe am Ziel war, das wusste er.

 

„Ich weiß nicht genau, wonach ich suche. Aber ich kann dir sagen, wo wir es finden“, erklärte Magnus mit Bestimmtheit. „Gleich ob uns jemand hier her gelockt hat oder die Götter selbst uns den Weg zeigen wollten, wachsam müssen wir ohnehin sein. Ich bin nicht hergekommen, um jetzt wieder davon zu segeln! Dass eine solche Insel bewohnt ist, ist nichts Ungewöhnliches!“

 

Damit wandte Magnus sich von Jon ab und folgte ein paar Schritte der Richtung, aus der er ursprünglich gekommen war. Nachdem er bemerkt hatte, dass Jon ihm noch immer nicht folgte, wandte er sich noch einmal um: „Du kannst zum Schiff zurückgehen, wenn du Angst hast. Bis zum Sonnenuntergang bin ich zurück.“

 

Für einen Herzschlag hielt Magnus den Blick seines Soldaten. Der schien noch nach Worten zu suchen, die aber nicht mehr über seine Lippen kamen. Daher ließ der Hauptmann ihn stehen und hörte nach einigen Schritten, wie Jon sich in die entgegen gesetzte Richtung davon machte. Feigling, schoss es Magnus durch die Gedanken. Die Verwünschung tat ihm wenig später aber schon leid. Jon war nicht schuld an der Unruhe, die ihn vorantrieb. Eine innere Stimme trieb Magnus immer weiter bergauf. Das mulmige Drücken, das sich in seinem Magen breit gemacht hatte, ließ ihn dann und wann einen misstrauischen Blick über die Schulter werfen. In Wahrheit drängte es ihn jedoch immer weiter voran.

 

Irgendetwas lief nicht nach Plan. Magnus war von diesem Gedanken überzeugt, seit sie die Insel betreten hatten. Der weiße Schleier, von dunklen, bläulichen Schlieren durchzogen, war trotz des Tageslichtes noch immer zu sehen und glänzte vor den Wolken wie ein Nebel aus metallenem Staub. All das sollte so nicht sein. Durch seinen Geist echote das Bild aus der Vision, das ein weißer Lichtblitz zerriss...

 

Als sich vor Magnus plötzlich eine weite, bergan führende Wiese öffnete, wurde der Gedanke übermächtig. Was war das am Horizont? Irgendein Gebilde hob sich dunkel vor dem Himmel ab. Bevor der Hauptmann es wahrlich zu erkennen vermochte, brach die Empfindung über ihm nieder, dass er gefunden hatte, wonach er suchte. Die Unruhe, die dieser Gedanke in seinem Innersten verbreitete, war kaum noch zu ertragen. Ohne es zu realisieren, wurden Magnus´ Schritte immer schneller. Sein Atem ging bereits stoßweise. Allmählich wurde der Ort, den er ansteuerte, klarer erkenntlich. Die Details, die sich dem Hauptmann zu offenbaren begangen, nährten in ihm das Entsetzen! Das durfte nicht sein! Das war nicht, was er vorzufinden geglaubt hatte!

 

Gut hundert Fuß vor dem Gebilde wagte Magnus keinen Schritt weiter. Sein Körper bebte unter der Anstrengung – oder war es womöglich, die stille, fremdartige Kraft, die diesen Ort erfüllte? Gefangen in den Gedanken und Empfindungen, die ihn zu übermannen drohten, bemerkte er nicht, wie eine Gestalt von hinten an ihn heran trat. Sie war keine zehn Fuß mehr entfernt, da Magnus erschrocken herum fuhr und in ein lächelndes Gesicht blickte.

 

„Willkommen“, begrüßte ihn der Ankömmling. „Es ist gut, dass ihr gekommen seid! Wir brauchen eure Hilfe!“

 

 

 

 

(c) Astrid Rauner

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